Staeves bietet eine Erklärung für Notkers Wahl des Partizips anstelle des Substantivs conceptio: "N. verwendet hier wohl bewußt das lat. Partizip conceptæ 4, 26, denn durch diese Wortwahl läßt sich nicht nur die Bedeutung des Ausdrucks passio animæ erklären, sondern auch die Gleichsetzung mit conceptio herleiten." (Staeves, S. 42.) Es fehlt noch eine Erklärung für das Genus. Die Frage ist also, welches lateinische Femininum hinter gedáncha steht und als Ursache für die Inkongruenz denkbar ist. Außer passio(nes) käme similitudo (bzw. similitudines) in Betracht, wenn man folgende Stelle im KI zugrundelegt:
Cum enim uideo orbem . uel quadratum figuram eius mente concipio . et eius mihi similitudo in anim ratione formatur . patiturque anima rei intellect similitudinem. Unde fit ut intellectus et similitudo sit rei et anim passio.
(Meiser I 37, 18-22)
Indem ich nämlich einen Kreis oder ein Quadrat sehe, nehme ich dessen Gestalt im Geist auf, und ihr Abbild formt sich mir in der Vernunft der Seele, und die Seele erfährt ein Abbild des erkannten Dinges. Daher kommt es, daß Erkenntnis sowohl eine Ähnlichkeit des Dinges als auch eine Erfahrung der Seele ist.
Wenn man unter Notkers gedáng nun eine Art mentaler Vorstellung verstehen darf, ist eine Gleichsetzung gedáng - similitudo durchaus möglich. Damit kommt auch die eben zitierte KI-Stelle als Quelle für den Satz Tîe - animæ in Frage, denn dem Gedanken (gedáng) und dem Abbild (similitudo) wird dieselbe Funktion bzw. Tätigkeit zugeschrieben, nämlich in die Seele aufgenommen zu werden und dort, im Vorgang der Erkenntnis, eine Erfahrung bzw. ein Leiden (dólunga/passio) zu verursachen.