íro zuéio] (gen. pl.) steht für negatio und affirmatio, die unter dem Oberbegriff enuntiatio zusammengefaßt werden.
genus] Hier wird auf das aus den Kategorien bekannte hierarchische Ordnungssystem zurückgegriffen: Untergeordnete Elemente sind species der übergeordneten; übergeordnete Elemente sind genus der untergeordneten. Vgl. KI:
Enuntiationis autem oratio genus est . Enuntiatio uero affirmationis et negationis. (NL 118, Meiser I, 35, 22f.)
Die Rede aber ist die Gattung (genus) der Aussage, die Aussage hingegen die der Affirmation und der Negation.
tés] n. sg. "Notkerscher Genusfehler": steht für enuntiatio f. King korrigiert zu téro f. sg., um Kongruenz mit enuntiatio herzustellen.
i. ipsæ voces] Die Kontextglosse legt den Bezug der Pronominalkonstruktion ea quæ sunt in voce auf ipsaæ voces fest. Daraus ergibt sich zunächst die redundant scheinende Aussage, daß eine Lautäußerung aus kleineren Einheiten besteht, die wiederum Lautäußerungen sind. Gleichzeitig wird jedoch hier eine Gleichsetzung der voces mit den notae vorgenommen, die im Grundtext nicht explizit ist; der Text wird damit vereindeutigt. Die mittelbar folgende Kontextglosse i. vocum ist eine äquivalente Wiederaufnahme. Auch im KI findet sich diese Erklärung:
atque hoc est quod ait: »sunt ergo ea quae sunt in voce earum quae sunt in anima passionum notae«, id est ipsae, inquit, voces intellectus, qui sunt animae passiones, significant eorumque sunt significativae. (Meiser I, 38, 14-18)
Und dies ist was er sagte: »Es ist also das, was in der Lautäußerung ist, Zeichen dessen, was an Erfahrungen in der Seele ist«, das heißt, diese Lautäußerungen selbst, sagt er, bezeichnen die Erkenntnisse, die Erfahrungen der Seele sind und sind für sie zeichenhaft.
KII geht detaillierter der Frage nach, warum es im Aristotelischen Text nicht schlicht voces, sondern ea quæ sunt in voce heißt: es wäre zu allgemein gesprochen, daß Lautäußerungen - voces - Zeichen für Erfahrungen der Seele sind, denn auch nichtbedeutende Laute sind voces. Für ea quæ sind daher Nomen und Verbum einzusetzen. Da nun Nomen und Verbum zur Gattung vox gehören und daher mit vox korrekt bezeichnet sind, ist es auch mit KII im Einklang, wenn Notker vereinfachend ea quaæ sunt in voce mit ipsæ voces glossiert.
conceptionum] Die Kontextglosse, mit conceptaæ wiederaufgenommen, scheint zunächst lediglich passio animæ und conceptio gleichzusetzen. In Notkers darauf folgendem Einschub aber dient das zugehörige Partizip einer differenzierteren Beschreibung von Vorgängen im Intellekt: die Erfahrung (passio) der Seele besteht in der Aufnahme eines Gedankens im Bewußtsein. Der enge Zusammenhang von passio animæ und conceptio findet sich im KI formuliert:
igitur ea quae sunt in voce intellectuum, qui sunt animae passiones, notae sunt eosque significant, quoniam his, id est vocibus, omnis significatur intelligentia mentisque conceptio. (Meiser I 38, 21-24)
Es ist also das, was in der Lautäußerung ist, Zeichen der Erkenntnisse, die Erfahrungen der Seele sind und bezeichnet sie, weil mit diesen, das heißt den Lautäußerungen, jede Einsicht (intelligentia) und jede Aufnahme {eines Begriffs/Gedanken} in das Bewußtsein bezeichnet wird.
Der Teilsatz ab quoniam in dieser KI-Stelle liefert - wenigstens der Formulierung nach - eine Begründung für den Sachverhalt, wie er bei Aristoteles dargestellt wird, wenngleich inhaltlich eher eine Paraphrasierung vorliegt.
i. litteræ] KI:
at vero quod addidit his: »et ea quae scribuntur eorum quae sunt in voce«, tantundem valet tamquam si diceret: notae sunt litterae quae scribuntur verborum et nominum quae sunt in voce. (Meiser I 38, 24-28)
Und das aber, was er diesen {Ausführungen} hinzufügte: »und das, was geschrieben wird, {ist Zeichen} dessen, was der Lautäußerung ist«, heißt ebensoviel wie wenn er sagen würde: Buchstaben sind Zeichen, die geschrieben werden, von Verben und Nomina, die in der Lautäußerung sind.
Notkers Kommentarblock stellt den Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Aristotelischen Satz her: die im ersten Satz genannten Typen von Äußerungen sind sämtlich voces, was hier soviel bedeutet wie "sprachlich geregelte Lautäußerungen" . Diese wiederum stehen in einer gewissen Beziehung mit dem Bewußtsein und den realen Dingen.
Es läßt sich in KI und KII keine Stelle finden, die im Ganzen als Vorlage gelten kann; doch zumindest die Einteilung in die Trias res, intellectus, voces, deren Erweiterung durch die litterae und die Bestimmung von intellectus als passio animae findet sich explizit schon im KI:
cum igitur haec sint quattuor - res, intellectus, vox, littera - rem concipit intellectus, intellectum vero voces designant, ipsas vero voces litterae designant. intellectus vero animae quaedam passio est. (Meiser I, 37, 12-15)
Da es also diese vier gibt - Ding, Erkenntnis, Stimme, Buchstabe - nimmt der Intellekt das Ding auf, die Erkenntnis (den Intellekt) aber bezeichnen die Lautäußerungen, die Lautäußerungen selbst aber bezeichnen die Buchstaben. Die Erkenntnis aber ist eine gewisse Erfahrung der Seele.
voces] vox ist ein äußerst häufig und oft mehrdeutig verwendetes Wort in den beiden Kommentaren des Boethius. Die Vorbemerkung im KII enthält eine eigene kleine Abhandlung (intentio DE VOCE), wo physikalische Vorgänge in der Stimme beleuchtet sowie die Begriffe vox, locutio und interpretatio voneinander abgegrenzt werden. Nach KII ist, etwas vereinfacht gesagt, jeder Stimmlaut, der mit irgendeiner Seelenregung in Zusammenhang steht, als vox zu bezeichnen. Auch Tierlaute zählen dazu. Ist eine vox artikuliert, so daß sie aus diskreten, schreibbaren Phonemen besteht, spricht man von einer locutio. Wenn nun eine locutio selbständig etwas bedeutet, ist sie eine interpretatio. KI hingegen stellt den Zusammenhang zwischen vox und interpretatio verkürzt dar, ohne die Zwischenstufe locutio bzw. das offensichtliche Synonym oratio ('Rede') anzuführen:
interpretatio est vox significativa per se ipsam aliquid significans. (Meiser I, 32,11f.)
Eine interpretatio ist ein bedeutungstragender Stimmlaut, der durch sich selbst etwas bedeutet.
óffenúngâ] In Notkers Schriften finden sich sonst nur 4 weitere Belege, 3 davon im Psalter, wobei einer der Belege eine Glosse ist, und einer in De interpretatione. In Psalm 43,4 (Np 47, 22f.) wird illuminatio vultus tui mit óffenunga dínes ánaliûtes übersetzt; Notker erläutert im Anschluß (Np 47, 23) - weiterhin in der Anrede Gottes -, Gott zeige hier seine Anwesenheit in seinen Werken. Die Bearbeitung von Psalm 103 enthält das Bibelzitat unicuique datur manifestatio spiritus at utilitatem (I Cor. 12,7; Np 383, 10f.), das in einer Interlinearglosse übersetzt wird mit eínemo iêgelichen uuírt kelâzzen dis keístis óffenunga ze núzzedo. Sprache, insbesondere in der Funktion als Träger für göttliche Vorschriften, wird in Psalm 118 thematisiert, wobei die poetische Form speziell mit Schriftsprache spielt: Das hebräische Original war in 22 Gruppen von je 8 Versen eingeteilt, die jeweils den gleichen Anfangsbuchstaben hatten und in alphabetischer Reihenfolge aufeinanderfolgten. Hauptthema ist Gottes Gesetz und dessen getreue Befolgung durch das "lyrische Ich". Psalm 188, 130 Declaratio sermonum tuorum illuminat . et intellectum dat paruuilis wird übersetzt mit Vuanda öffenunga dînero uuorto irliêhtet luzzele . unde gîbet in fernumest. Notker verwendet also mit óffenunga ein Wort, das er sonst nur im theologischen Kontext gebraucht. Dort steht es im Zusammenhang mit der Offenbarung Gottes durch verschiedenartige, auch sprachliche Zeichen. Diese Zeichen vermitteln demnach theologische und damit höchste und verbindlichste Wahrheiten. Damit stellt sich die Frage, ob Notkers Ausdruck óffenunga für die Beziehung zwischen Bewußtseinsinhalten und sprachlichem Ausdruck einen Widerspruch zur Arbitrarität sprachlicher Zeichen darstellt, wie sie der Aristotelische Text behauptet. Eine weitere Frage wäre, ob Notkers Doppelformel óffenúngâ únde zéichen eine semantische Ausdifferenzierung erbringt. Denkbar wäre, daß óffenunga im Sinne von 'Offenbarung', 'Kundgabe' das aktive Moment einer Äußerung betont, das auf Seiten des Sprechers liegt, während zéichen in dieser Beziehung neutral ist.
gedáncho] Nach Staeves verwendet Notker gedáng überwiegend zur Übersetzung von cogitatio sowie meditatio im Psalter; hier erweitert er die Semantik, die zuvor nur den Vorgang des Denkens sowie das Ergebnis des Denkvorgangs, das "Ausgedachte", die "Erfindung" umfaßte, um die Bedeutungen "Vorstellung", "Begriff". Die Wiederaufnahme im selben Kommentarblock zeigt, daß Notker gedáng und passio animae nicht als vollkommen gleichwertige Begriffe ansieht, wenngleich er Aristoteles im letzten Satz des Abschnitts unterstellt, er bezeichne die gedáncha mit passiones animae, was eine ungenaue Sprechweise wäre, denn: wenn die Gedanken der Seele ein "Leiden" zufügen, wie können sie dann mit diesem Leiden identisch sein?
dólúnga] Notker verwendet den Ausdruck im 8. Kapitel der Kategorien, um passio zu übersetzen. Wahrnehmung wird dort als ein Affektiertwerden (passio) der Sinne durch passibiles qualitates an realen Gegenständen dargestellt. Strenggenommen liegt allerdings hier eine andere Art von dólúnga/passio vor als an der genannten Kategorien-Stelle, denn dort sind es die Sinne und damit körperliche Vermögen, die affektiert werden, hier aber der passive Teil der Denkseele, also ein rein geistiges Vermögen. Die Verwendung ein und desselben Ausdrucks unterstellt eine Analogie zwischen den beiden Vorgängen.
conceptæ] < King korrigiert conceptæ zu concepti, um Kongruenz mit gedáncha herzustellen, gibt aber zu bedenken, daß conceptæ mit passiones zusammenstimmt. Ein Abschreibfehler scheint mir eher unwahrscheinlich. Staeves bietet eine Erklärung für Notkers Wahl des Partizips anstelle des Substantivs conceptio, nicht aber für das Genus. Die Frage ist, welches lateinische Femininum hinter gedáncha steht und die Inkongruenz erzeugt. Außer passio(nes) käme similitudo (similitudines) in Betracht, wenn man folgende Stelle im KI zugrundelegt:
Cum enim uideo orbem . uel quadratum figuram eius mente concipio . et eius mihi similitudo in animæ ratione formatur . patiturque anima rei intellectæ similitudinem. Unde fit ut intellectus et similitudo sit rei et animæ passio. (NL 118f.; Meiser I, 37, 18-22)
Indem ich nämlich einen Kreis oder ein Quadrat sehe, dessen Gestalt im Geist aufnehme und ihre Ähnlichkeit {bzw. Abbild} sich mir in der Vernunft der Seele formt, und die Seele eine Ähnlichkeit des erkannten Dinges erfährt, geschieht, daß Erkenntnis sowohl eine Ähnlichkeit des Dinges als auch eine Widerfahrnis der Seele ist.
Wenn man unter Notkers gedáng nun eine "Vorstellung" verstehen darf, ist eine Gleichsetzung gedáng-similitudo durchaus möglich. Damit kommt auch die eben zitierte KI-Stelle als Quelle in Frage, denn gedáng und similitudo wird dieselbe Funktion zugeschrieben, nämlich in die Seele aufgenommen zu werden und dort, im Vorgang der Erkenntnis, eine dólunga/passio zu verursachen.
scrífte] bedeutet hier nach Staeves analog zu vox ('Einzelsprache', vgl. die Erläuterung zu voces oben) soviel wie "graphisches Zeichensystem einer Kultur im Vergleich zu anderen"; deshalb wurde anstatt des zu erwartenden bûohstáb (Schriftzeichen im allgemeinen) diese nur noch einmal im Martianus Capella verwendete Übersetzungsgleichung gewählt.
sprâchâ] wird von Notker auch als Übersetzung für lingua und arbitratio gebraucht; das Wort meint hier die Einzelsprache eines Volkes.
neutra vúre feminina] Notker bringt scheinbar eine grammatische "Korrektur" am Aristoteles-Text an, die als Verständnishilfe für die Schüler intendiert sein dürfte: Um Kongruenz mit passiones animæ zu wahren, müßte es quarum und primarum statt quorum und primorum heißen.
vóregedancha]< interpretiert primarum (passionum) - nach Notkers Korrektur primorum -, was entweder für die Vorzeitigkeit des Gedankens gegenüber seiner sprachlichen Äußerung oder für die Mittelbarkeit des Bezugs von Äußerung und bezeichnetem Gegenstand (res) über den "Umweg" der Gedanken steht. Staeves legt plausibel dar, daß sich Notker mit dem Hapaxlegomenon vóregedancha für die erste Alternative entscheidet. Auch das Notker-Glossar bietet diese Deutung an.
Sô - creaturæ] Notker zählt Gegenstände aus der sinnlich erfahrbaren Realität auf, von denen ausgehend mithilfe der Wahrnehmung gedáncha entstehen können, die zu den Gegenständen (díng) in einem naturgegebenen Ähnlichkeitsverhältnis stehen. Die sinnlich erfahrbaren Eigenschaften (qualitates) éiver (amarus/bitter) und sûoze (dulcis/süß) werden in der Kategorienschrift an mehreren Stellen als Beispiele verwendet. Die folgende Stelle im KI konstatiert die indirekte, durch den Intellekt vermittelte Bezeichnung der Realität durch sprachliche Äußerungen; Beispiel für reale Dinge ist hier ein Stein:
Vox enim et intellectum rei significat . et ipsam rem . ut cum dico lapis . et intellectum lapidis . et ipsum lapidem id est ipsam substantiam designat. (NL 120; Meiser I 40, 14-18)
Die Lautäußerung bezeichnet sowohl die Erkenntnis des Dings als auch das Ding selbst, so wie sie, wenn ich "Stein" sage, sowohl die Erkenntnis des Steins als auch den Stein selbst, das heißt, die Substanz selbst, bedeutet.
Für Notkers weitere Beispiele findet der NL eine Stelle aus des Boethius Kategorien-Kommentar K:
Cum dico homo . lignum . lapis . equus . anima . plumbum . stan[n]um . argentum . aurum. Hæc et alia huiusmodi . quæ nimirum infinita sunt . hæc omnia ad unum substantiæ vocabulum deducuntur. (NL 120)
Wie wenn ich sage: 'Mensch', 'Holz', 'Stein', 'Pferd', 'Seele', 'Blei', 'Werkblei', 'Silber', 'Gold': Diese und andere derartige, die zweifelsohne unendlich viele sind, diese werden alle auf eine Benennung der Substanz hingeführt.
Tíu - dénchet] Notker nimmt den Gedanken wieder auf, daß die Seele (mûot) Ähnlichkeiten (gelîhnísse) von realen Gegenständen erzeugt, indem sie sie irgendwie nachbildet. Der Ausdruck mûot hat ein breites Bedeutungsspektrum und umfaßt alle Aspekte der Seele, wenn man von den vielfältigen Belegen bei Notker ausgeht. Der NL bietet eine Stelle aus dem Kategorienkommentar (K) an, in der das aktive, mentale "Bilder" erzeugende Moment der Erkenntnis angesprochen wird, allerdings im Zusammenhang mit fingierten, nicht real existenten Gegenständen:
Quasdam namque res animus sibi ipse confingit . vt chimæram . uel centaurum . uel alia huiusmodi quæ tunc sciuntur . cvm ea sibi animus finxerit. (NL 121)
Gewisse Dinge nämlich ersinnt sich der Geist selbst, wie die Chimäre oder den Zentauren oder andere derartige, die dann gewußt werden, wenn sie sich der Geist einbildet.
Vgl. auch die oben zu conceptæ zitierte KI-Stelle, insbesondere den Teilsatz "eius mihi similitudo in animae ratione formatur".
Notker übersetzt den vorausgehenden umgeordneten Text verkürzt: "de intellectibus animæ" entspricht "Fóne dero sêlo vernúmiste" und "dictum est" entspricht "gnûoge geságet". "In his quæ dicta sunt de anima" ist ein Querverweis auf die aristotelische Schrift De anima, die zu Notkers Zeit allerdings nicht verfügbar war; daß die Stelle aber ein konkreter Querverweis ist, konnte Notker aus KII entnehmen:
De quibus animæ passionibus . in libris se de anima commemorat diligentius disputasse. (NL 121, Meiser II 43, 16f.)
Von welchen Widerfahrnissen der Seele {die Rede ist}, hat er, wie er erinnert, in den Büchern über die Seele ausführlicher diskutiert.
Tíu - gedáncho] Der Einschub liefert die erforderliche Verbindung zwischen den Erkenntnisinhalten der Seele und den lautlich-sprachlichen Äußerungen, die der translatio-Text nur implizit enthält (quemadmodum - sic), indem er ein Ähnlichkeitsverhältnis in bezug auf Einfachheit oder Verbundenheit feststellt. Vgl. die folgende Stelle im KI:
similitudo est, inquit, quaedam inter se intellectuum atque vocum: quemadmodum enim sunt quaedam simplicia quae ratione animi concipiuntur constituunturque intelligentia mentis, in quibus neque veritas ulla neque falsitas invenitur, ita quoque in vocibus est. (Meiser I 41, 27-42,4; NL 121)
Eine gewisse Ähnlichkeit besteht, sagt er, zwischen den Erkenntnissen und den Lautäußerungen: so wie es nämlich gewisse Einfache gibt, die durch die Vernunft der Seele aufgenommen und durch das Erkenntnisvermögen des Geistes konstituiert werden, in denen sich keinerlei Wahrheit oder Falschheit findet, so ist es auch bei den Lautäußerungen.
tíu ín vólgênt] Der Relativsatz nimmt die These von der Vorzeitigkeit des Gedankens gegenüber der sprachlichen Äußerung wieder auf; vgl. vóregedáncha.
Substantiam - lúgi] Notker verbindet das aussagenlogische Schema Subjekt-Prädikat mit dem in den Kategorien entwickelten Schema Substanz-Akzidens. Parallelen finden sich im KI:
Sed quando cursum et hominem iunxero . et ex his aliquid intelligentia mea fecero . idque si uoce proferam huiusmodi erit . homo currit. Tunc ex hac substantiæ et accidentis compositione et coniunctione huiusmodi intellectus fit . in quo falsitas possit esse . uel ueritas (NL 121; Meiser 42, 11-16)
Wenn ich aber das Laufen und den Menschen verbinde und aus diesen mir etwas in meinem Denkvermögen mache und das, wenn ich es mit der Stimme vortrage, zu folgendem wird: "Der Mensch läuft": dann wird aus der Zusammensetzung von Substanz und Akzidens eine Erkenntnis derart, daß in ihr Falschheit sein kann oder Wahrheit.
Nunc uero negatio si huic aduerbium negatiuum iunxero . et substantiam ab accidente diuisero atque disunxero . ut est homo non currit. Non . quod est aduerbium negatiuum hominem a cursu diuidit atque disiunxit . factaque est inde negatio . rursus ueritatem falsitatemue significans. (NL 122; Meiser I 43, 6-11)<
Nun {ist es} aber eine Negation, wenn ich diesem ein negatives Adverb hinzufüge und die Substanz vom Akzidens unterscheide und trenne, wie {die Aussage} "Der Mensch läuft nicht" eine ist. 'Non', das das negative Adverb ist, unterscheidet und trennt den Menschen vom Laufen, und daraus ist eine Negation entstanden, die wiederum Wahrheit oder Falschheit bedeutet.
i. sine 'est' vel 'non est'] Auf den ersten Blick mag die Kontextglosse wenig informativ erscheinen, da esse nur eines von vielen Verben ist und die verba ja bereits im voranstehenden Segment genannt worden sind; doch hier sind besondere Merkmale des Ausdrucks esse von Belang. Denn est kann sowohl die Funktion der Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat als auch die eines Existenzquantors (im Sinne von 'existiert') übernehmen. Der folgende Ausschnitt aus dem KI diskutiert diesen Sachverhalt und liefert eine Motivation für die Glossierung, enthält doch auch jede Zusammensetzung von Nomen und Verb implizit die Verbindung, die durch est ausgedrückt wird, was man durch einfache Ersetzung des Verbs durch sein Partizip zeigen kann:
cum enim simpliciter dico "homo", si non aliquid addidero, ut verbum 'est', ut fiat huiusmodi conpositio: "homo est", vel huiusmodi aliquid ut "homo vivit", quod idem valet tamquam si dicamus "homo vivens est": ergo nisi aliquid huiusmodi fuerit adiunctum, quod intellectam rem vel per se esse constituat, ut "homo est" cum dico per se esse hominem designavi, vel iuncto accidenti tale aliquid adponatur, quod idem ei quod est esse significet, ut est "homo vivit" - vita enim homini iuncta est et 'vivit' idem designat quod 'vivens est' - nulla veritas nec falsitas valet intellegi. (Meiser I 44, 6-17)
Sobald ich nämlich auf einfache Weise "Mensch" sage, wenn ich nicht etwas hinzufüge, wie das Verb 'est', so daß eine derartige Zusammensetzung entsteht: "Der Mensch ist", oder etwas derartiges wie "Der Mensch lebt", was ebenso viel bedeutet wie wenn wir sagen "Der Mensch ist lebend": wenn also nicht etwas derartiges hinzuverbunden wird, das von dem erkannten Ding behauptet, daß es schlechthin sei, so wie ich, wenn ich sage "Der Mensch ist", das schlechthin-Sein des Menschen meine, oder dem gebundenen Akzidens etwas so beschaffenes hinzugefügt wird, das zugleich dem, was ist, Sein zuspricht, wie bei "Der Mensch lebt" - das Leben wird nämlich mit dem Menschen verbunden und 'lebt' bedeutet dasselbe wie 'ist lebend' - dann ist weder Wahrheit noch Falschheit zu erkennen.
Die negative Alternative wird zwar in der oben zitierten KI-Stelle nicht zusammen mit est erwähnt, ergibt sich aber aus dem Zusammenhang: das Hinzufügen von est entspricht der compositio. Daß das negative Adverb non eine divisio ergibt, findet sich explizit an der oben zitierten Stelle im KI (Meiser I 43, 6-11).
sléhtero vernúmiste] Entspricht intellectus sine compositione vel divisione im voranstehenden Text. Der Ausdruck wird lateinisch vorweggenommen im KI:
Ea enim inquit quæ simpliciter dicuntur . similia sunt simplicibus intellectibus qui sine ulla compositione uel diuisione animi puro capiuntur intellectu (NL 122; Meiser I 43, 20-23 )
Diejenigen nämlich, sagt er, die auf einfache Weise ausgesprochen werden, sind einfachen Erkenntnisinhalten ähnlich, die ohne jegliche Zusammensetzung oder Abtrennung durch das reine Erkennen des Geistes erfaßt werden.
tánne - uuâr] Die Gleichsetzung der compositio mit der affirmatio und analog der divisio mit der negatio liegt auch im KI vor:
Recte igitur dictum est . circa compositionem quod est affirmatio . uel diuisionem quod est negatio . ueritatis falsitatisque constare naturam (zum vorangehenden Aristoteles-Abschnitt; NL 122; Meiser I 43, 12-14)
Es ist also richtig gesagt, daß die Natur der Wahrheit und Falschheit auf Zusammensetzung, was Bejahung heißt, sowie auf Abtrennung, was Verneinung heißt, beruht.
dénchet álde chît] Denken und die Äußerung des Gedankens sind in diesem Kontext äquivalent. Der dahinterstehende Gedanke, daß - bei aller Arbitrarität - zwischen Mentalem und sprachlich Geäußerten eine gewisse Ähnlichkeitsrelation besteht, wird hier implizit wieder aufgenommen. Vgl. hierzu auch eine vorangehende Stelle, der zufolge diese similitudo darin besteht, daß Einfachheit und Zusammengesetztheit sowohl im Gedachten als auch im Geäußerten auftreten. KII weist an mehreren Stellen auf eine Lehre der Peripatetiker hin, nach der es drei orationes gibt, eine geschriebene, eine ausgesprochene und eine gedachte.
Íh - exemplum] KI:
Hoc autem conuenienti monstrat exemplo. (zum vorangehenden Aristoteles-Abschnitt; NL 122; Meiser I, 44, 17f.)
Dies aber zeigt er an einem passenden Beispiel.
táz - compositum] KI:
Ipsum enim quamquam sit compositum tamen simpliciter dictum ueritati et falsitati proximum non est. (NL 122; Meiser I, 45, 1-3)
Obwohl es selbst eine Zusammensetzung ist, reicht es dennoch, einfach ausgesprochen, an Wahrheit und Falschheit nicht hin.
Der Ausdruck compositum ist ansonsten nicht zu verwechseln mit dem heutigen grammatischen Terminus 'Kompositum', denn er bedeutet 'Zusammensetzung' im Allgemeinen; an dieser Stelle allerdings handelt es sich tatsächlich um ein Kompositum im heutigen Sinne.
táz - nomen] KI:
Hircoceruus enim compositum nomen est . significans hircum et ceruum. (NL 122; Meiser I 44, 27f.)
'Bockhirsch' nämlich ist ein zusammengesetztes Nomen, das einen Hirschen und einen Bock bezeichnet.
verbum] Damit werden esse sowie die zugehörige Negation non esse zusammengefaßt. Die umgekehrte, spezifizierende Zuordnung verbum - esse hat Notker zuvor in der Kontextglosse zu einem vorangehenden Aristotelischen Satz vorgenommen.
Táz - sínt] KI:
ergo id quod ait: »vel simpliciter vel secundum tempus« huiusmodi est: simpliciter enim facta enuntiatio secundum praesens est; etenim quod 'praesens' dicimus tempus non est, sed confinium temporum, tempus autem est futurum vel praeteritum. (Meiser I 45, 15-19)
Also ist das, was er sagte: 'in einfacher Weise oder dem Tempus nach' folgendermaßen zu verstehen: eine in einfacher Weise gemachte Aussage steht im Präsens; was wir allerdings 'Präsens' nennen, ist kein Tempus, sondern die Abgrenzung der Zeiten {voneinander}, Tempus aber ist sowohl das Futur als auch das Präteritum.
Tû - sî] KI:
ergo non potest in eo quod est 'hircocervus' veritas aut falsitas inveniri, nisi ei aut esse aut non esse addatur, vel praesens significans, quod est simpliciter, vel tempus, quod est praeteritum aut futurum. si quis enim sic dicat "hircocervus est", simpliciter dixit id est secundum praesens, si quis autem "hircocervus erit" vel "fuit", secundum tempus futurum scilicet et praeteritum. (Meiser I 45, 20-27)
Also kann in der {Äußerung}, die lautet 'Bockhirsch', nicht Wahrheit oder Falschheit ermittelt werden, wenn ihr nicht Sein oder nicht-Sein hinzugefügt werden, sei es das Präsens bezeichnend, was in einfacher Weise ist, sei es ein Tempus bezeichnend, was Präteritum oder Futur ist. Wenn man nämlich sagt "Den Bockhirschen gibt es", sagt man es in einfacher Weise, das heißt im Präsens, wenn man aber {sagt} "Den Bockhirschen wird es geben" oder "hat es gegeben", {sagt man es} selbstverständlich im Futur und Präteritum.