Gabriele Radecke
Letzte Aktualisierung: 2007-05-06
Postdoc-Projekt

Textgenetische Edition von Theodor Fontanes Roman Mathilde Möhring

Theodor Fontanes unvollendet gebliebener Roman Mathilde Möhring (1891/95-96) gilt heute als einer der bedeutendsten Texte des Autors. Obwohl er nicht für den Druck fertiggestellt worden ist, zeigt er dennoch einen paradigmatischen Wechsel hinsichtlich des künstlerischen Gestaltungsverfahrens: Sprachlich wie inhaltlich überwindet der Roman die Grenzen realistischen Erzählens und nähert sich der literarischen Moderne. Trotz dieser einhelligen literaturwissenschaftlichen Einschätzung liegt Mathilde Möhring in keiner entstehungs- und überlieferungsadäquaten Ausgabe vor. Sowohl Josef Ettlingers 1906 besorgte Erstveröffentlichung als auch Gotthard Erlers 1969 herausgegebene Neuedition können aus heutiger editionswissenschaftlicher Sicht nicht überzeugen. Beide Editoren erheben den Anspruch, Fontanes Handschrift konsequent zugrundegelegt zu haben. Sie präsentieren aber dennoch einen rekonstruierten, vermeintlich autorintendierten Text nach dem Prinzip letzter Hand, der dem wichtigsten Merkmal der Überlieferung - der Unvollendetheit und daher Offenheit des Textes - zu wenig Rechnung trägt.

Im Rahmen des im Graduiertenkolleg Textkritik eingebundenen Projektes wird eine textgenetische Neuedition der Mathilde Möhring angestrebt, die im Gegensatz zu den beiden vorliegenden Ausgaben zum ersten Mal nicht ein mögliches Textergebnis, sondern die Rekonstruktion des Textualisierungsprozesses in den Mittelpunkt stellt. Die Umkehrung des allen Ausgaben zuvor zugrundegelegten Konzeptes soll in einem editorischen Bericht theoretisch diskutiert werden. Dabei ist zu zeigen, daß gerade die wesentlichen Kennzeichen der Unvollendetheit und Offenheit des Textes - die zahlreichen Doppel- und Mehrfachformulierungen und die metatextuellen Äußerungen des Autors - eine Abkehr vom Leittextprinzip erzwingen und eine neue methodische Basis für die Textdarbietung erfordern. Im Zentrum der Ausgabe steht die editorische Umsetzung der methodischen Ergebnisse. Es ist geplant, dem aufbereiteten, 'edierten' Text, der nach streng diplomatischen Kriterien erarbeitet werden soll, stets den entsprechenden handschriftlichen Textzeugen faksimiliert gegenüberzustellen. Die in meiner Dissertation über Fontanes L'Adultera im Kapitel "Textgenetische Dokumentation" erarbeiteten streng diplomatischen Kriterien der Textkonstitution können dafür als Basis fungieren.

Auf der Grundlage der genetischen Edition wird schließlich im Rahmen der Großen Brandenburger [Fontane-] Ausgabe des Aufbau-Verlages (<http://www.fontanearchiv.de/publikationen.htm> und <http://www.aufbauverlag.de) eine zweite Mathilde-Möhring-Edition erarbeitet, die eine neukonstituierte Textfassung mit kommentiertem Anhang vorlegt. Erste Ergebnisse sind in vier Aufsätzen formuliert worden (vgl. Publikationen); die vollständigen Ausgaben werden voraussichtlich im Herbst 2008 und Frühjahr 2009 erscheinen.

E-mail: GabrieleRadecke@aol.com